Der EXIT-Komplex – Die Webseite zum Buch

Leseprobe

Foto: Günter Schuler

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Jacques Bauer (* 20. Juni 1949 in Vallan, Region Bour­gogne-Franche-Comté; gestorben das erste Mal am 17. April 1992 in Châlons-sur Marne, heute: Châlons-en-Champagne in der Region Champagne-Ardenne. Aus dem Tod wiedererwacht am 30. Dezember 2002, danach normal weitergelebt; verstorben erneut am 6. Oktober 2025 in Paris) war ein französischer Biowissenschaftler und Soziologe. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen in der Entwicklung sozialwissenschaftlich begleiteter Technologiekonzepte. Bauer gilt als Begründer innovativer Vergleichskonzepte bei der Entwicklung neuer Biotec-Verfahren. Zu seiner Volltod-Erfahrung, die lange Jahre lediglich in Insiderkreisen bekannt war, veröffentlichte er 2024 ein spektakuläres Buch mit dem Titel »Sterben und Wiederauferstehen«.

 

Theo Schröder kratzte sich am Kopf. Richtete den Blick erneut auf den Monitor seines MacBooks. Aber hier stand es – Wort für Wort so wiedergegeben in Wikipedia. Er schaute nach draußen, wo der spätherbstliche Himmel zwischen Orange, Blau und unterschiedlichen Grautönen oszillierte. Guter Überblick – hier im 9. Stockwerk einer Hochhaussiedlung, deren Wahl als neuer Lebensmittelpunkt ihm das Amt vor zwei Jahren dringlichst nahegelegt hatte. Das Wetter: konnte sich nicht entscheiden – ebenso wie er, rund eine Woche vor seinem angesetzten Einschläferungstermin. Mit einem nervösen Klick öffnete er die Liste mit der Versionsgeschichte des Eintrags. Vielleicht hatten sich ja irgendwelche Trolle an dem Artikel vergangen und Bauer die seltsame Nahtodgeschichte angedichtet. Aber es war nicht so. Theo – das »dor« dahinter hatten sich seine Erzeuger zeitig gespart – erkannte mit geübtem Blick: Da war kein Troll zugange gewesen. Fakt war: Bauer hatte gelebt, war eventuell gestorben, hatte danach weitergelebt und – neben vielem anderem, was er in seinem Leben vielleicht getan hatte – ein Buch verfasst, das offensichtlich Anklang gefunden hatte.

Das ziellose Herumstöbern im Netz währte bereits zwei Stunden. Auf diesen Bauer – oder besser: diesen Wikipedia-Eintrag über Bauer – war er über allerlei Zufalls-Umwege gestoßen. Mit anderen Worten: Theo Schröder, 47 Jahre, ehemals Print­productioner bei einem Werbeblatt-Verlag und seit drei Jahren arbeitslos, tat etwas, was man Leuten wie ihm nur allzu gerne vorhielt: Er schob die Dinge vor sich her. Mit fahriger Geste steckte er sich eine Zigarette an. Sich einen imaginären Ruck gebend, nahm er den Brief zur Hand, der – kopfauf auf einem Stapel Unterlagen, die thematisch allesamt mit seinem derzeitigen Karma zu tun hatten – auf der linken Seite seines kleinen Schreibtisches lag. 

Der Inhalt des Briefes klang nicht sehr ermutigend. Verfasst vom Innenministerium NRW, Düsseldorf, Abteilung EXIT, nahm er in langschweifig-umständlichem Bürokratiestil Bezug auf zurückliegende Korrespondenzen. Die reichlich mit aufgeführten Gesetzesparagrafen kehrten zusätzlich hervor, dass die Behörde lupenrein im Recht war – und darum verfügen konnte, was sie in den Folgeabschnitten eben zu verfügen gedachte. Die Verfügung wies ihn, Theo Schröder, an, sich am 13. Dezember um 8.00 Uhr im EXIT Center Düsseldorf Nord in der Wiedenberger Straße 74 einzufinden, um sich dort eben dem EXIT-Verfahren zu unterziehen. Zusätzlich imprägniert war der Anschreibetext mit Hinweisen, dass das Mitbringen von Gegenständen wie etwa SmartPhones, Büchern, Konsolen und Ähnlichem unnötig sei – eine beigefügte und in den Anlagen des Schreibens mit enthaltene Liste würde ihn näher darüber in Kenntnis setzen, was er alles nicht mehr bräuchte – umgekehrt jedoch auch über die Dinge, gegen deren Mitbringen das Amt nichts einzuwenden habe.

Das Schreiben endete mit dem Hinweis auf unmittelbare Zwangsmaßnahmen, falls er zu dem angesetzten Termin nicht erschiene – wobei vorsorglich auch hier der entsprechende Paragraf mit angegeben war. Ergänzt war der Brief schließlich mit dem Hinweis auf die Rechtshilfebelehrung in der Anlage sowie dem Vermerk, dass er auch ohne handeingefügte Unterschrift Rechtsgültigkeit besitze.

Theos Gedanken schweiften ab – zurück zu seinem Leben noch vor wenigen Jahren. Sicher, der reine Glamour war es nicht gewesen. Er dachte zurück an den Stress im Verlag – ebenso aber auch an die lustigen Momente, die sie manchmal gehabt hatten. Die Verlagsfete, die sie zwei Jahre vor der Firmenpleite geschmissen hatten, war eines der Highlights. Theo hatte seinen Chef Rolf, mit dem er gut konnte, dazu überredet, für das Ganze eine Gartenwirtschaft draußen in der Heide zu buchen. Er, Theo, hatte den DJ gegeben. Am Ende sah die Szenerie aus wie aus dem Bilderbuch für Trucker-Romantik. Das bunte Licht der Lichterketten tauchte die sommerliche Nacht und die Tanzfläche in warme, satte Farben. Dann plötzlich sie.

»Kannst du mal einen bestimmten Song auflegen?«

Sie lächelte, eine Mischung aus Keckheit und Verlegenheit.

»Müsste gehen. An welchen hast du denn so gedacht?«

Sie beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm den Titel ins Ohr: Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh – ein Oldie aus unbeschwerteren Tagen, und in der Situation klar der Wink mit dem Zaunpfahl, musikalisch langsam auf die Romantik-Schiene überzuleiten. So hatten sie sich kennengelernt – Rosa und er. Am Ende hatten sie zwei, drei Stehblues-Nummern zusammen getanzt und sich danach zu einer mehr oder weniger heftigen Knutscherei hinter einen der Wohnwagen zurückgezogen.

Dann war der Aufprall gekommen. Der Verlag mußte schließen, dem Internet Platz machen. Der Rest für ihn war dann bald Amt gewesen. Mit dem war er ziemlich bald auf Konfliktkurs geraten. Und auch die Geschichte mit Rosa erwies sich am Ende als zeitlich limitiert. Ein paar Monate nach dem Firmenende hatte sie ihn wegen eines Immobilientypen verlassen und war mit dem Schwachkopf alsdann in einen namenlosen Vorort gezogen. Seither hatte er sie nicht mehr gesehen. Das gute Verhältnis mit seinen Kollegen in der Produktions-Crew hielt den harten Anforderungen des Lebens »danach« ebenfalls nicht stand – nach und nach zerlief es sich. Einen hatte er vor einem Jahr auf dem Amt wiedergetroffen. Es war eine jener deprimierenden Zusammentreffen, an die er lieber nicht zurückdachte.

Mitten in diese Zeit war dieses Programm geplatzt – EXIT, ein Begriff, der in seiner spartanischen Simplizität einen nachhaltigen Ausweg aus allerlei Krisen signalisieren sollte. Der Volksmund – eher auf Ergebnisse als auf Ambitionen blickend – hatte die vier Buchstaben bald auf einen einzigen heruntergekürzt: »E« – wahlweise stehend für die beiden Eckpunkte von EXIT: Einschläferung und Erweckung. Theo zog fahrig an seiner Zigarette, fummelte aus seinem Unterlagen­stapel die Papierseite heraus mit einem ausgedruckten Artikel von der Webseite der Frankfurter Zeitung. Erschienen war er vor gut einer Woche. ­Im Großen und Ganzen bot er einen guten Überblick über die Lage, in der er – Theo Schröder – im Moment steckte:

 

Verschärft Regierung EXIT-Maßnahmen wieder?

27. November [dpa / eigener Bericht]. Die Diskussion über das im Vorjahr auf den Weg gebrachte EXIT-Programm reißt nicht ab. Nachdem sich Innenminister Dreyel im Frühjahr in die Nesseln setzte mit großangelegten Polizeiaktionen sowie der Räumung mehrerer Sozialsiedlungen, geht es seine Nachfolgerin Louise Beckmann nunmehr pragmatischer an. »Nachdem die Freiwilligkeit an diesem Projekt nicht die erforderlichen Resultate brachte, mussten wir leider Zwangsmaßnahmen mit einbeziehen. Da Zwangsmittel jedoch nicht zur Regel werden sollen, sind wir in der Regierung übereingekommen, die großflächig ausgesprochenen Verfügungen, die in der Bevölkerung für Kontroversen gesorgt haben, erst einmal einzuschränken und dabei auf zielgenauere, selektive Auswahlen zu setzen.«

Beckmann betonte, dass die Maßnahmen ihres Vorgängers normale Startschwierigkeiten gewesen seien, »Kinderkrankheiten« einer innovativen Technologie, mit deren Hilfe die sozialen Belastungen, die sich im Zug von Inflation, Klima- und Energiekrise aufgetürmt hätten, wieder handhabbarer würden. »Ich sage es nochmal: Niemand wird ›getötet‹ oder gar ›Massenmorden‹ zugeführt, wie es manche ›Kritiker‹ mit ihren unsäglichen NS-Vergleichen suggerieren.« Die EXIT-Technologie sei eine sichere Technologie, betonte Beckmann. Die ausgesuchten Probanden und Probandinnen würden dabei lediglich eingefroren – bis in eine Zeit, in der sich sowohl die sozialen als auch die ökologischen Umstände wieder bessern würden.

Für heftigen Widerspruch hatte eine Äußerung Beckmanns im Sommer gesorgt, derzufolge die ausgewählten EXIT-Delinquenten eigentlich froh sein können, eine Zeit der Unsicherheit quasi zu »überspringen«, um in entspannteren Zeiten den Rest ihres Lebens genießen zu können. Auf die umstrittene Äußerung ging sie bei der Pressekonferenz zum Thema nicht ein. Allerdings bekannte sie auf Nachfrage, die Freiwilligkeit des Programms habe zu Anfang leider nicht die erforderlichen Resultate gebracht. Sie selbst sei mit den augenblicklichen Zwangsmaßnahmen auch nicht recht glücklich – allerdings sei das in der gegenwärtigen Gesamtlage schlicht alternativlos. Beckmann: »Sicher – wir werden sie einschläfern. Aber ich verspreche Ihnen: Wir werden sie auch wieder aufwecken.«

Offensichtlich wollte Beckmann die Wogen glätten wegen der zu Beginn erfolgten Zwangsmaßnahmen. Eine Absicht, die ihr nur bedingt gelungen sein dürfte. Verursacht auch durch wachsende Kritik, steuert das Programm derzeit auf einen Stand zu, der es am Ende durchaus selbst zur Disposition stellen könnte. Fazit: Die Auseinandersetzungen um die umstrittene Einfrier-Technologie werden uns auch die nächsten Monate begleiten.

 

Nun war also er an der Reihe. Natürlich hatte er Erkundigungen eingezogen, als im April der erste Brief eingetroffen war. Auch in seinem Bekanntenkreis hatten die angelaufenenen EXIT-Maßnahmen für große Unsicherheit gesorgt – flankiert von einem ebenso großen Fehlen konkreter Infos. Vor zwei Wochen hatten sie dann seine Verbindungen gekappt. Telefon – tot, ebenso sein Smartphone. Im Internet surfen konnte er zwar noch. Der Em­pfang sowie das Versenden von Mails waren jedoch plötzlich blockiert. Insgesamt sah seine Situation völlig anders aus als die rosarote PR-Darstellung, die er vor zwei Jahren in seinem Briefkasten gefunden hatte. Eine Hochglanzbroschüre – sie befand sich nunmehr ebenfalls bei den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. In ihr war vollmundig von Wagnis die Rede gewesen, von Abenteuer, für das nur ein kleines bisschen Risikobereitschaft und Mut erforderlich sei. Und von allseitiger gesellschaftlicher Harmonie, die am Ende auch seines Weges stehen könne – dann, wenn er wieder aufwache.

Hochpreisig produziert, gedruckt auf wertigem, hochglänzendem Papier und versehen mit pastellfarbenen Bildern glücklicher Menschen, hatte die Infosendung das Programm als wahres El Dorado ausgemalt. Nun war die ganze Chose bittere Realität geworden. Ihm blieb noch eine Woche. Eine Woche, in der er sich absetzen konnte – oder aber dem Unausweichlichen ins Auge sehen musste. Die Kargheit seiner Optionen vor Augen, warf er einen Blick auf den Stuhl, der vor der Küchenanrichte stand. Darauf lag die Walther PPK, die er sich vor sechs Wochen besorgt hatte – ein Sinnbild nachgerade jener kalten Gesellschaft, in der er sich, wie ein Schlafender nach einem schlechten Traum, wiedergefunden hatte. Nunja – vollnaiv war er nicht. Im Rückblick erwies sich die Walther als eine der wenigen besseren Ideen, die er in die Tat umgesetzt hatte – obwohl die Wumme, die ihm ein Security-Typ aus einer Disko überließ, ein nicht unerhebliches Loch in sein Budget gefressen hatte. Wie auch immer: Mit der Knarre konnte er im Notfall immerhin selbst entscheiden, auf welche Weise er abtreten ­würde.

 

*

 

Die drei Typen bewegten sich mit routinierter Vorsicht durch den Empfangsbereich von Haus D im Möllenbergring 14, Düsseldorf-Nord. Zwei Polizeiwagen – die obligatorische Verstärkung, falls es Trouble geben würde – standen für den Notfall bereit und parkten unmittelbar hinter dem Gefangenentransporter. Am Steuer saß Mike, ebenfalls Angehöriger der örtlichen EXIT-Eingreiftruppe – womit sie insgesamt vier Mann waren. Auf der Abholliste standen drei Namen – allesamt wohnhaft in Düsseldorf-Nord. Praktisch bedeutete das, dass die Aktion – ein reibungsloser Ablauf vorausgesetzt – noch vor Mitternacht vorbei sein könnte.

»Ich versteh’ das nicht«, meinte der erste – eine Diskussion aufgreifend, die sie bereits während der Hinfahrt geführt hatten. »Abholen find’ ich okay. Aber den Leuten Briefe schicken, dass sie sich dann und dann einfinden sollen, und eine Woche vorher dann einen Transport ansetzen, finde ich schon ziemlich schräg.«

»Ja – aber was willst du machen? Das wird halt einer da oben so beschlossen haben. Denk’ immer daran: Wir sind nur die Ausputzer – nicht die Entscheider.«

Rollo, ein stämmiger Typ mit dunklen Haaren, wusste, wann er seiner Truppe Raum für Diskussion geben konnte, und wann es der Worte genug war. Mittlerweile befanden sie sich unmittelbar an der Schwelle zur Action. Rollo brauchte dies seinen Leuten nicht zu sagen. Mit kurzen Blicken signalisierte er, dass nunmehr äußerste Konzentration angesagt war. Einen Moment lang dachte er an seine Freundin. Lisa. Sie würde vermutlich schon schlafen, wenn er zurückkehrte. Oder sich eine ihrer abgedrehten Telenovelas ansehen. Harry, der vorangeschritten war, winkte den beiden anderen und zeigte auf die Aufzugtür. Rollo glich mit den beiden anderen die genauen Lagedaten ab.

»Wohnung 39, 9. Stock. Da ist er – den Energiedaten-Check hab’ ich bereits vollzogen. Mit Widerstand ist eher nicht zu rechnen. Trotzdem: Kevin bleibt auf dem Flur, als Deckung. Du, Harry, kommst mit mir. Alles klar?«

Die beiden anderen nickten. Ruckelnd ging es mit dem Fahrstuhl nach oben. Harry, ein Blonder mit kurzgeschorenem Haar, zog hart durch die Nase. »Stinkt nach Kotze«, meinte er lakonisch. Die beiden anderen sagten nichts. Dann rumpelte der Fahrstuhl und sie waren oben. Aufmerksam und gespannt orien­tierten sie sich.

»Ist der linke Flur. Hab’s mir vor dem Fahren nochmal angesehen.«

Die drei schwenkten nach links, passierten eine Glastür und danach eine Reihe von Wohnungstüren. Dunkelgrün gestrichen, mit Guckloch, und – manchmal – einem Namensschild. Es roch nach abgestandenem Essen, nach Trostlosigkeit und Nicht-Definierbarem. »Theo Schröder – ist er das?« Rollo nickte stumm.

Dann klingelten sie. Stoßweise, erst kurz, dann dreimal lang, dann wieder kurz und dreimal lang. Theo war überrascht – um nicht zu sagen entsetzt. Das hatte er nun von seiner Vor-sich-Herschieberei, läuteten die Glocken in seinem Kopf. Natürlich warteten die nicht, bis er sich selbsttätig zur Schlachtbank aufmachte. Nach dem Motto: Guten Tag, nehmen wir heute den Bus? Oder gönnen wir uns zur Feier des Tages ein Taxi?  Für Flucht war es nunmehr zu spät; das hätte er sich besser frühzeitiger überlegt. In einer Reflexbewegung nahm Theo die Walther vom Stuhl und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Wie auch immer: Sofern er nicht die Option vorzog, die Flucht über das Fenster im neunten Stockwerk anzutreten, war Nicht-Öffnen keine Alternative – geortet hatten sie ihn eh bereits. So schluckte er trocken, rief dann laut »Moment!« und schritt zur Tür. Drei Cops – oder besser: Semi-Cops. Diese Typen vom EXIT – halb Sicherheitsdienst, halb Polizei.

»Sind sie Theo Schröder?« Der eher dunkle Typ ganz vorn schaute ihn unter dem Schirm seiner EXIT-Baseballkappe aufmerksam an. Theo versuchte, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen.

»Ich hab’ meinen Termin erst in einer Woche«, entgegnete Theo geistesgegenwärtig. »Von Abholung war in dem Schreiben, das mir vorliegt, keine Rede.«

»Kein Grund zur Beunruhigung», meinte Rollo in sachlichem Ton. »Wir sollen nur sicherstellen, dass Sie in einer Woche auch vor Ort sind.«

Die beiden EXITler betraten wie selbstverständlich die Wohnung und unterzogen sie routiniert wie unauffällig einem visuellen Kurzcheck.

»Haben Sie Ihr Gepäck parat? Unterlagen? Oder müssen Sie noch zusammenpacken?« Der zweite, ebenfalls in neutral gehaltener Tonlage. Theo gab keine Antwort, sondern lediglich einen bedeutsamen Augenwink auf die Tasche, die neben der Tür stand.

»Wir checken das jetzt nicht durch, das machen die Kollegen.« Rollo wieder. »Und keine Sorge: Ihr Terminplan wird vollumfänglich eingehalten. Ihre Unterkunft bis zur ›Maßnahme‹ ist auch gar nicht mal so übel.«

Die Überrumpelung der ganzen Prozedur machte diese kleine Beschwichtigung natürlich nicht ungeschehen. Theo Schröder sagte dieses Detail allerdings, dass diese Burschen möglicherweise nicht ausreichend vorbereitet waren auf den Job, den sie gerade durchführten. Mit langsamer, normal wirkender Geste zog er sich eine Allzweckjacke über. An die in seinem Hosenbund verstaute Knarre denkend, meinte er dann:

»Gehen wir?«

Die beiden Burschen zögerten einen kurzen Moment. Der Wortführer meinte noch kurz:

»Dürften wir Sie dann noch um Ihre Wohnungsschlüssel bitten?«

Auch hier sachlich, rundum informativ. Kein süffisantes Die brauchen Sie ja jetzt nicht mehr.

Theo überreichte dem Dunklen die Schlüssel, dann schritten sie aus der Wohnung in den Flur. Dort wartete Rollkommando-Mitglied Nummer drei. Wie es hochgegangen war, ging es auch wieder hinunter. Rollo gab über sein Funkgerät kurz Meldung: 

»Alles in Ordnung. Sind gleich da.« Krächz…, dann, bestätigend: »Drei Minuten – circa.«

Der Weg bis zum Gefangenentransporter war in weniger als zweien absolviert. Es war kalt. Aufgrund der Überrumpelungssituation noch immer unter Schock stehend, registrierte Theo eine Frage des zweiten.

»Handschellen brauchen wir wohl nicht?«, gefolgt von einem lapidaren »Nee«.

Dann fuhren sie los: Theo mit dem Blonden und Nummer drei hinten auf Seitenbänken, der Dunkeltypige mit Fahrer vorne. Dahinter: die Polizeieskorte. Vorne beiläufige Konversation – abgedämpft durch die mit einer Glas-Trennscheibe versehene Durchsicht in den Hinterraum:

»Wo gehts als nächstes hin?« Antwort. Dann: »Die Kollegen von der Polizei melden sich. Ob sie weiter mit uns im Konvoi fahren sollen.« Funk, Krächzen, Unverständliches. Dann Rollos Stimme.

»Nee. Die nächste Adresse ist im Kiesewetterweg. Die sollen lieber zur Möllengartensiedlung vorfahren und dort auf uns warten.«

Der Fahrer bemerkte etwas von Scheiß-Planung. Rollo pflichtete ihm mit einem Grunzen bei. Nach zehn Minuten Fahrt durch unbekannte, dunkle und nur durch schmale Gitterfenster an den Seiten sichtbare Stadtarchitektur waren sie am nächsten Ziel.

Theo Schröder war immer noch damit zugange, die Situa­tion, in die er auf so unvorhergesehene Weise geraten war, mental zu verarbeiten. Nun katapultierte ihn die Rea­lität unmittelbar ins Leben zurück. Das für ihn eine weitere Überraschung parat hatte – als Rollo und Harry den nächsten Delinquenten in den Gefangenentransporter verfrachteten. Genauer: Delinquentin. Deren Stimme sorgte bereits in dem Disput, der sich zwischen Haus und Transportwagen entspann, auf unüberhörbare Weise für Aufmerksamkeit.

»Das hätten Sie sich mal lieber vorher überlegen sollen.« Rollos Stimme.

»Was bitte hätte ich mir vorher überlegen sollen? Dass mich abends ein Rollkommando abholt, während ich gerade Wäsche zusammenlege? Ergibt das einen Funken Vernunft?«

»Sie hatten Ihre Chance gehabt, Lady.« Harrys Stimme. »Sie waren Referendarin, immerhin im Schuldienst. Wie ich es so sehe, haben Sie Ihr Leben selber verkackt.«

Theo hörte ein ungläubiges Lachen, gefolgt von einem vernehmbaren Räuspern. Das offensichtlich von Rollo kam und seinen Kollegen zur Ordnung rufen sollte. Die Stimmen kamen näher.

»Hier entlang«, meinte Harry in bemüht neutralem Tonfall.

Die Tür wurde geöffnet, flankiert von Harry sowie Rollo, der von außen die Tür schloss, setzte sich eine mittelgroße, gleichermaßen unfreiwillige Mitfahrerin auf die Bank neben Theo. Er kannte sie, und sie kannte ihn. Nicht besonders gut, eher weitläufig. Claudia war ihr Name. Vor Jahren hatte er etwas näher mit ihr zu tun gehabt – im Zuge von ein paar Treffen, als er noch politisch aktiver war. Gefallen hatte sie ihm durchaus; aus diesen und jenen Gründen hatte er allerdings nicht weiter versucht, sie anzubaggern.

»He – dich kenn’ ich«, meinte sie ebenso überrascht wie kurz angebunden. Den Rest verkniff sie sich. Klar, der Rest der Anwesenden war mitzubedenken – und sie beide in der wohl beschissensten Lage, die man sich vorstellen kann. Theo zwinkerte kurz – das Einverständnis, dass hier nicht der Ort war, um einen auf Plaudertüte zu machen. Harry war unterdes wieder runtergekommen und kehrte tonal etwas den Conferencier heraus, der eine allseits vergnügliche Kaffeefahrt begleitet.

»Dann werden wir gleich noch Nummer drei abholen.«

Harry und Kevin saßen ihnen gegenüber. Machte Sinn: So hatten sie ihre Gefangenen im Blick. Claudia und Theo beäugten sich verhalten von der Seite. Sie hatte nachgelassen, dachte er unwillkürlich. Blonde, strähnige Haare, harte Falten um den Mund, graue, nicht allzu abgewaschene Trainingshose mit ebenso grauem Sweat Shirt. Assi-Look eben, und, nunja: irgendwas Ausgezehrtes, und auch Abgebrühtes in ihrer Art. Claudias Taxierungsergebnisse waren vermutlich ähnlich schmeichelhaft.

»Haste mal ’ne Zigarette?« Claudia glotzte Harry herausfordernd an. Der lachte.

»Du glaubst wohl, wir fahren hier zum Vergnügen durch die Gegend?«

Theo gab Claudia einen unauffälligen Stubs mit dem Fuß. Dann noch einen – in der Hoffnung, dass sie das richtig, also als Signal zur Ermutigung, verstand. Weiß der Teufel – die vergangene Stunde hatte die Architektur von fast allem verändert. Warum es nicht versuchen? Beim zweiten Anstoßer schien Claudia verstanden zu haben. Sie fixierte die beiden Typen auf der Bank gegenüber mit verachtendem Blick und sagte in provokativ-bedauerndem Ton:

»Ihr seid ja sowas von arm.«

Harry antwortete nicht. Claudia grinste ihn höhnisch an und fuhr in demselben Ton fort:

»Arme Typen. Ja – arme Typen. Das seid ihr.«

»Vorsicht, Mylady«, brachte Harry noch heraus. Zeitlich hatte das Ablenkungsmanöver ausgereicht. Theo hatte seine Kanone aus dem Hosenbund herausgefummelt und hielt sie ­Harry plötzlich direkt vors Gesicht. Der Verzicht, den Gefangenen Handschellen anzulegen, erwies sich für die Transportbegleitung unversehens als Kardinalfehler. Abwechselnd Harry und seinen Partner mit dem Lauf anvisierend, meinte Theo:

»Die Fahrt ist hier zu Ende. Hier und sofort. Sag’ den zwei Arschlöchern vorne, dass sie anhalten sollen –«

»Sonst?«

Harry war unsicher, grinste dümmlich, die Situation taxierend. Dann geschah alles sehr schnell. Claudia warf sich gegen ihn, während der zweite Anstalten machte, seine Waffe aus dem Halfter heraus zu nesteln. Claudia hatte Harry einen Moment abgelenkt, krachte allerdings, von einem unerwarteten Beintritt erwischt, mit Karacho in die Hinterecke des Wagens. Von vorn waren Rufe zu vernehmen, der Wagen ging auf Schlenkerkurs. Unvermittelt trat Kevin Theo die Pistole aus der Hand und beförderte ihn mit einem kräftigen Schlag auf den Boden.

»Ach so – ihr wollt hier einen auf Gefangenenbefreiung machen?«

Mit hochrotem Kopf baute er sich über Theo auf. Harry putzte sich unterdess den Mund ab und war ebenfalls im Begriff, noch ein paar auszuteilen. Plötzlich krachte ein Schuss. Ein kurzer ratloser Moment, dann fing Harry an rumzuschreien:

»DIE SCHLAMPE HAT MIR EINE KUGEL VERPASST !!«

Kevin war mit der Anforderung, quasi im Sekundenturnus die Situation neu zu taxieren, sichtlich überfordert. Und auch Theo war überrascht, als er Claudia plötzlich mit einer Pistole herumhantieren sah. Mit der sie nunmehr Kevin in Schach hielt.

»Komm’ bloß nicht auf die Idee, das Ding da aus deinem Halfter zu ziehen.«

Unversehens klinkte sich der angeschossene Harry wieder ins Geschehen ein. Er trat mit dem Fuß nach Claudia und beförderte sie so erneut in die hintere Wagenecke. Theo hatte unterdessen seine Walther im Blick, die ihm während des Gemenges aus der Hand geglitten war und nun auf dem Boden lag. Wie in Trance stürzte er sich auf sie, richtete sie auf Kevin und drückte zwei-, dreimal ab. Ein weiterer Schuss fiel – Claudia hatte offensichtlich Harry ins finale Knockout geschickt.

Claudia und Theo hatten nunmehr zwar ihre beiden Bewacher im hinteren Bereich des Transporters außer Gefecht gesetzt. Da sich in der Fahrerkabine jedoch zwei weitere befanden, war der Ausgang weiterhin unsicher. Der Wagen hatte sein Tempo zwischenzeitlich verlangsamt und kam allmählich zum Stehen – ein kritischer Moment, weil die beiden im Fahrerraum sie demnächst von zwei Seiten ins Visier nehmen konnten.

»Passt auf – wir haben Geiseln! Wir haben eure Kumpels«, rief Theo durch die Scheibe. Was nicht ganz, aber zumindest im Groben stimmte. Von Harry weiter hinten in der Kabine war ein leises Wimmern zu vernehmen. Über ihm Claudia, die an seinem Gürtelbund herumnestelte.

»Zur Seite«, meinte Claudia, die unvermittelt neben Theo stand und mit zwei Schüssen die Transparenzscheibe parzellierte. Mit der Pfefferspray-Dose herumhantierend, die sie Harry abgenommen hatte, hielt sie deren Sprühknopf durch das zerschossene Glas in die Fahrerkabine und befüllte diese mit dem Reizgas.

»Hey – hör’ auf! Bist du verrückt? Wir gehen hier noch mit drauf.«

Claudia schaute Theo mit entschlossenem Blick an, ging dann zur Hintertür.

»Eure Chance zu überleben«, rief Theo nach vorn. »Wir hauen jetzt ab. Überlegt euch sehr gut, ob ihr uns folgt.«

Theo hustete, Claudia hustete; in der Fahrerkabine waren Husten und hektisches Herumhantieren zu vernehmen. Was immer jetzt passierte – es mußte schnell gehen. Mit zwei gezielten Schüssen zerstörte Claudia die Verriegelung der Hintertür. Sie stiegen ins Freie. Kalte Nachtluft – in einer undefinierbaren Reihenhaussiedlung. Theo warf einen kurzen Blick auf die Fahrerseite vorne links. Mike, der Fahrer, hatte die Tür geöffnet und hielt sich, durch die Pfefferspray-Ladung ziemlich mitgenommen, am Wagen fest. Dem vierten, Rollo, würde es vermutlich ähnlich gehen.

»Mach los«, rief Claudia. »Nichts wie weg von hier – schnell!«

Beide schickten orientierende Blicke in die Gegend, schauten sich dann fragend-entschlossen an. Wortlos gaben sie Fersengeld in Richtung eines Einfamilienhausgartens, über den man vermutlich weitersprinten konnte. Die beiden liefen sprichwörtlich um ihr Leben – über Hecken, durch Beete, über eine Rasenfläche, hin zu einer Baumreihe, hinter der sich ein Zaun und eine weitere Gartenanlage befand. Möglich, dass es hier weitergehen würde, so sicher waren sie sich noch nicht.

Eines jedenfalls stand bereits jetzt fest: Programm oder nicht – nach der Nummer würden sie auf der Fahndungsliste sämtlicher Polizeiapparate stehen, die es im Land gab.