Der EXIT-Komplex – Die Webseite zum Buch
21.5
exklusives Zusatzkapitel zum Roman
Foto: Günter Schuler
Hier gibt es ein paar Details vom Finale-Vorfeld, die im Buch selbst nicht enthalten sind. Spoilerwarnung: Wer das Zusatzkapitel vor dem Buch liest, erfährt ein paar Dinge im Voraus. Die Romanhandlung bleibt jedoch auch ohne diese »Extension« komplett nachvollziehbar.
21.5
Nicht nur Joanne Arras, die in dieser Nacht alle Schwierigkeiten – und alle Freuden –, die das Leben so bereithielt, final hinter sich ließ, hatte sich in zuletzt unauflösbare Probleme verhakt. Schwierigkeiten unvorhergesehener Natur hatten auch Clichy-sous-Bois heimgesucht. Von dem kahlen Stadtrand-Wald auf der anderen Straßenseite der Sozialsiedlung genoß Niki gerade einen prächtigen Blick auf die Szenerie – eine Ansammlung düster aufragender Hochhaus-Kolosse, die sich schwarz wie der neunschwänzige Scheytan in den dunkelgraublauen, wolkenverhangenen Frühmorgenhimmel reckten. Wie in Grosny, dachte er, während er vereinzelte Lichter beobachtete. Dieselbe Bauweise, dieselbe Art, Menschen möglichst kompakt auf irgendeine grüne Wiese zu verpflanzen – oder in irgendeine Favela, wo sie dann selbst sehen konnten, wie sie zurechtkamen. Er selbst hatte die Lektion auf die harte Tour gelernt. Am Ende halbwegs erfolgreich. Was auf ihn wartete, war immerhin ein nettes Eigenheim in einem der besseren Viertel seiner Heimatstadt. Sicher nichts Großes. Verglichen mit den meisten seiner Landsleute ging es ihm jedoch geradezu prächtig.
Angespannt und mit leicht zitternden Händen steckte er sich eine Papirossa an. Seine Hände zitterten. Der Kaffee, das Adrenalin, das Speed. Nicht zu vergessen der Deutsche – sein derzeitiges Hauptproblem. Der Plan hatte bereits im Vorfeld eine heftige Delle abbekommen. Um sich möglichst effizient der Fahndung zu entziehen, hatte Niki – in Absprache mit dem Deutschen – festgelegt, dass seine Truppe unmittelbar nach Ausführung des Auftrags außer Landes fliegen würde. Die Idee war nicht schlecht. In Zweiergruppen – sich ausgebend als Geschäftsleute oder aber als russische Touristen, die in die Heimat zurückreisten – würden sie sich vermittels unterschiedlicher Linienflüge absetzen. Keine große Sache, Hit and Run eben: Bevor die Fahndung richtig einsetzte, wären sie bereits außer Landes.
So der Plan. Das weitere Finetuning hatte vorgesehen, die Tickets vor Ort zu besorgen – in unterschiedlichen Reisebüros sowie an Linienschaltern direkt am Flughafen Paris–Charles-de-Gaulle. Daten, die im Internet ihre Spuren hinterließen, wollte Niki unbedingt vermeiden – nicht wegen der Flucht im engeren Sinn, sondern vielmehr deswegen, weil Netzdaten zwangsläufig mehr Anhaltspunkte liefern würden in Bezug auf ihre Identität. So hatten sich Sascha und Stanislaw am letzten Morgen aufgemacht. Sascha sollte die Tickets kaufen, Stanislaw sich im Hintergrund halten und schauen, das alles geregelt über die Bühne ging. Was dann leider nicht der Fall war. Nachdem Sascha am Aeroflot-Schalter die letzten zwei Flüge gebucht hatte, geriet er unversehends in eine Kontrolle, die in eine Festnahme einmündete. Schöne Scheiße. Am Ende blieb Stanislaw nichts anders übrig, als Niki Bericht zu erstatten.
Die Nachricht von Saschas Festnahme hatte die ohnehin schon angespannte Stimmung der nunmehr fünf Männer in dem kleinen Appartment zum Siedepunkt gebracht. Nicht, dass es einfach gewesen wäre – die Warterei vor einer Aktion, die kleinteiligen, meist unspektakulären Vorbereitungen, der Zeitvertreib, die Leere und die Anspannung. Allerdings: Sie waren ehemalige Armeeangehörige – in der Mehrzahl altgediente Kämpfer der Kriege, die im Verlauf des neuen Jahrtausends in der russischen Peripherie stattgefunden hatten. Der Unterschied war schlicht, dass das Auftragsgeschäft lukrativer war. Und nun diese Panne. Im Endeffekt bedeutete sie nicht weniger als einen Komplettwegfall der geplanten Fluchtroute. Anders gesagt: Sie saßen fest. Und Canceln der Aktion war – da kannte Niki den Deutschen gut – keine Option.
»Ja?«
Der Deutsche klang genervt. Am Ende hatte kein Weg daran vorbeigeführt, Mr. Orange aka Ralph Bericht zu erstatten.
»Wir haben Probleme.«
Nikis Stimme klang ruhig, beherrscht. Anders als seine Leute mied er meist jene Stimulanzien, mit denen seine Untergebenen ihr Funktionieren unter Stress gewährleisteten. In knappen Sätzen erstattete Niki Rapport, dass das Besorgen der Flugtickets gescheitert war. Das lange Schweigen am anderen Ende der Mobilverbindung war vielsagend. Die erste Frage hatte Niki erwartet, und sich die Antwort darauf sorgsam zurechtgelegt. Mit dem Unterton gekränkter Ehre stellte er klar, dass sie Diebe im Gesetz seien. Die Regeln der osteuropäischen Banden mochten im Detail unüberschaubar und für Außenstehende exotisch erscheinen. Regel Nummer eins indessen war so archaisch wie eindeutig: dass man mit der Polizei nicht redete. Nie, nimmer, nirgends. Notfalls würde Sascha seine Strafe absitzen – was immer man ihm auch vorwerfen würde.
Im Moment sei das jedoch nicht ihr Problem, fuhr Niki fort, das Gespräch auf sein eigentliches Thema lenkend. »Wir können nun nicht mehr fliegen. Keine Tickets«
Als Profi nahm Ralph den wortkarg vorgetragenen Fehlschlag von der praktischen Seite. Wichtig war: Eine neue Fluchtroute mußte her – sonst war die ganze Aktion obsolet und mußte am Ende gar abgeblasen werden.
»Ich kümmere mich«, meinte er knapp und unterbrach die Verbindung. Niki atmete durch und schmiss sich – ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – doch eine Pervitin-Pille ein. Tschechische Schwarzmarkt-Fabrikation. War preisgünstig, funktionierte zuverlässig – seine Leute schwörten auf das Zeug.
Das Telefonat mit dem Deutschen hatte am Vorabend stattgefunden. Der Rest war Warten, Anspannung sowie das Aufbrechen alter Animositäten. Die Stunden wechselten zwischen brütendem, ratlosen Schweigen und lautstark geführten Streits. Einer wäre fast in eine Schlägerei ausgeartet. Niki mußte seine ganze Anführer-Autorität in die Waagschale werfen, damit die Chose nicht weiter eskalierte. Mittlerweile war früher Morgen. Zwei der Männer spielten mit müden, mechanischen Gesten Backgammon. Stanislaw, einer seiner älteren, erfahreneren Leute, lag wach auf seinem Feldbett und starrte nachdenklich die Decke an. Der vierte der fünf Verbliebenen schließlich war in einen unruhigen Schlaf verfallen und plagte den Rest mit seiner von unverständlichen Lauten unterbrochenen Schnarcherei.
Niki hatte es am Ende nicht mehr ausgehalten und war nach draußen gegangen. Das Verlassen des Appartments hatten sie – nach den Regeln minimalster Aufmerksamkeitserzeugung – bislang tunlichst vermieden. Nun jedoch war selbst Niki an seinem Ausharr-Limit angelangt. Die kühle Luft tat ihm gut. Er ging ein kurzes Stück in das Waldstück hinein, setzte sich schließlich auf einen Baumstamm und ließ seine Gedanken zirkulieren. Im Grunde, dachte er, gab es nur eine Möglichkeit: Der Deutsche würde sich nochmal melden. Und entweder die Aktion abblasen. Oder aber einen neuen Fluchtplan durchgeben. Welche der beiden Möglichkeiten die bessere war, wußte er nicht. Eines war ziemlich sicher: Nach dem Flughafen-Patzer war die Truppe bei den Geheimdiensten durch. Aus dem Grund er bereits gestern, nach Eintreffen der schlechten Nachricht, Alternativen ausbaldowert. Ein Gespräch mit einem alten Bekannten, der gute Verbindungen zur Tschetschenischen Legion unterhielt, war recht ermutigend verlaufen. Falls alle Stricke reißen sollten, so Nikis Bekannter, gab es in der Heimat durchaus noch Aufgabengebiete für so Leute wie sie.
Nikis Prepaid summte. Orange aka Ralph hatte sich zwar Zeit gelassen – allerdings nicht so viel, dass die Aktion gefährdet gewesen wäre.
»Ja.«
Ralph hatte die letzten Minuten dasselbe gedacht. Nach dem gestrigen Gespräch (das – jedenfalls aus seiner Warte – zivilisiert und gesittet über die Bühne gegangen war) war die heiße Wut über ihn gekommen. Einige Gegenstände des Mobiliars in seinem Appartment hatten das nicht unbeschadet überstanden. Im Grunde, das war ihn klar, galt die Wut ihm selbst: Er und niemand anderes hatte die Aktion schlussendlich in den Sand gesetzt. Niki und seine Leute waren Söldner – Soldaten eben, die auf Befehl einen Auftrag ausführten. Ebenso klar allerdings ging ihnen die ausgebuffte Routiniertheit ab, die richtigen Profikillern eben zu eigen war. Nun mußte er mit den Utensilien Brötchen backen, die gerade zur Hand waren. Noch schlimmer: Eine höhere Stelle stand nicht zu Verfügung. Was im Klartext bedeutete: Letzten Endes befand er sich auf Gedeih und Verderb in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Niki.
»Wir haben’s«, erklärte er mit unbeteiligter Stimme. »Der Plan wird geändert. Seid morgen früh am Autobahnkreuz bei Voisins. Da ist ein großer Parkplatz.« Ralph erklärte Niki die nötigen Parameter. »Dort stehen ein Van und ein dunkelblauer BMW parat. Ihr braucht nicht zu suchen; am Rastplatz ist jemand, der euch die weiteren Instruktionen geben wird.« Ralph machte eine Pause, schob ein paar Erläuterungen nach. »Ihr werdet untertauchen. In der weiteren Region, erstmal. Es ist alles vorbereitet. Der Rest läuft nach Plan.«
Es entstand eine weitere Pause.
»Okay, Boss«, meinte Niki, versuchte seiner Stimme, einen Anklang von Leichtigkeit zu geben.
»Ich hab’ da noch was«, schob Ralph mit nonchalanter Stimme nach. »Euer Mann. Hab’ mich erkundigt. Die Festnahme war wohl eher unspezifisch. Werde ein paar Fäden in Bewegung setzen, um eine schnelle Freilassung zu erwirken. – Der muß dann natürlich auf eigene Faust sehen, dass er aus Frankreich verschwindet.«
Niki wollte pflichtschuldig eine kleine Lobesarie platzieren, doch forsch schnitt Ralph ihm das Wort ab. »Das war der letzte Patzer. Die Aktion läuft wie vereinbart. Ebenso der Rest der Geldüberweisung. Und –«
Ralph machte eine Kunstpause. Niki fuhr sich mit der Hand über seinen blondgefärbten Schopf und drückte das Handy ans Ohr.
»– Das war unser letzter Kontakt. Verhaut die Aktion nicht, sonst –«
Den Rest ließ er ungesagt. Dann war die Verbindung tot. Fazit: Der Kern des Plans blieb – fast – unverändert: drei würden reingehen, zwei die Fluchtwagen bereitstellen und den Rückzug sichern. Hit and Run – nur eben nicht als Stoßkommando in der Ukraine, sondern in der dichtbesiedelten Metropole Paris. Niki drückte den Rest seiner halbaufgerauchten Papirossa auf dem nassen Waldboden auf, streckte sich und ging mit langsamen, unwilligen Schritten zurück zu dem Hochhaus.
Sébastien – seine (wenigen) Freunde nannten ihn schlicht Seb – lag entspannt auf dem Sofa einer kleinen Privatwohnung in Boulogne-Billancourt. Die Wohnung befand sich in einem unauffälligen Reihenhausviertel in der Nähe des Stadtzentrums. Very nice, war es ihm bei der Quartiernahme durch den Kopf gefahren – eine Bequemlichkeit, die letzten Endes auf sein erfolgreiches Jonglieren mit Airbnb und ähnlichen Vermittlungsservices zurückzuführen war. Dank ihnen, befand Sébastien, stellte das anonyme, zeitlich befristete Absteigen in Wohnungen kaum noch ein Problem dar. Auch sonst hielt sich Sébastien – neben allem anderen, was er sonst noch so tat – zugute, ein richtiger Netzkünstler zu sein, ein Digital Native. Diesmal war er in Boulogne-Billancourt gelandet – der traditionsbehafteten Renault-Stadt direkt vor den Pforten von La Paris.
Die Nachzügler-Wolken des atlantischen Tiefs, die gerade am Himmel vor seiner Fensteraussicht vorbeiflogen, interessierten Sébastien wenig. Schlafen konnte er nicht; ergo schaute er sich auf dem SmartPhone eine Serie an. Die setzte das Treiben einer Künstleragentur in Szene, welche entweder Klienten betreute, die sich allein nicht die Schnürsenkel zubinden konnten, ein Diven-haftes Gehabe an den Tag legten oder gleich mit beiden Herausforderungen geschlagen waren. Lustig, das alles – jedenfalls konnte sich Sébastien dabei prima entspannen. Vielleicht sollte er Nicola anrufen. Die konnte bestimmt ebenfalls nicht schlafen. Zusammen konnten sie vielleicht ein, zwei Folgen weitergucken. Oder aber – que sais? – ein kleines amouröses tête-à-tête einleiten.
Gesagt getan. Nicola war gleich am Mobil.
»Was gibts?«, brummte sie, unwillig, mit einem Tonfall zwischen Schläfrigkeit und entspannter Angespanntheit.
»Wollte fragen, ob du vielleicht Lust hast, auf einen kleinen Quickie vorbeizuschauen.«
»Negativ.« Eine kleine Pause entstand. Nicola konnte es schon aus prinzipiellen Gründen nicht ab, wenn man sie außer der Reihe anrief. »Du solltest schauen, dass du noch eine Mütze Schlaf abbekommst. Du siehst mich heute mittag – am vereinbarten Treffpunkt. Und in bekannter Schönheit.«
»Ich dachte ja nur.« Sébastien ließ seine Avance unbestimmt im Raum stehen. »Wär’ schön gewesen«, fügte er in spielerisch-schmollendem Tonfall hinzu.
»Du bist einfach eine Sau, Sébastien«, meinte Nicola mit anhaltend ärgerlicher Stimme. »Keine Ahnung, warum ich mich breitschlagen ließ, ausgerechnet mit dir zusammenzuarbeiten. Die Vorbereitungen für den Job – alle getroffen?«
»Positiv. – Was machst du?«
»Ich befriedige mich gerade selbst. Mit einem riesengroßen Dildo, was dachtest du denn?«
Das Geplänkel ebbte ab, verlief sich langsam in sachlicheren Bahnen. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Der Plan war simpel. Zusammen würden sie auf der Sitzung dieses Komitées aufkreuzen und diesem deutschen Investigativ-Journalisten die Kerze ausblasen. Ort und Anlass waren sowohl unkonventionell als auch spektakulär. Normalerweise ging ein Auftragsmord da vonstatten, wo er möglichst wenig Aufsehen erregte. In diesem Fall verhielt sich die Chose etwas anders. Ihr Auftraggeber wollte ein Signal, ein Fanal geradezu. Die Botschaft, so viel waren sie im Bilde: Ein gewisses deutsches Online-Magazin – und ebenso weitere potenzielle Medien mit zu viel Berufsneugierde – sollten davon abgeschreckt werden, weitere Nachforschungen anzustellen zu einer gewissen Firma mit Namen Morantis. Aus diesem Grund hatte ihr Auftraggeber eine quasi öffentliche, exemplarische Hinrichtung ins Visier gefasst. Und aus exakt diesem Grund waren sie ins Spiel gekommen: Sébastien aka Serge oder auch »der Große« – und Nicola, die kleine, umtriebige Rothaarige. Die zwar auffällig war und in der kleinen, verschworenen Szene der Premium-Auftragskiller wohlbekannt, die aber niemand Falsches je zu fassen kriegte.
Kurzum: Nicola war ein modernes Phantom. Im Gegensatz zu ihm, Sébastien. Vier Jahre hatte er abgesessen – sein Lehrgeld. Unten in Marseille, und gleich nach seinem zweiten Auftragsmord. Ursprünglich hatte er Schauspieler werden wollen. Ausbildungs- und Lehrjahre, die ihm bis heute exzellente Dienste leisteten. Doch die Kunst hatte sich als brotlos erwiesen – wobei er sich eingestehen mußte, dass bei ihm vielleicht das Talent nicht ausgereicht hatte. Geblieben war ihm am Ende die leichte, nochchalante Art. Und ein paar harmlose Marotten – wie etwa diese Serie, die ihm auf amüsante Weise vorführte, dass auch im Beruf der Schauspielerei nicht alles nur eitel Sonnenschein war.
Wie steckte Nicola das alles eigentlich weg? Ihr Metier, den Umstand, dass sie alle paar Monate (oder, je nach Lage, auch nur einmal pro Jahr) einen Menschen, mit dem sie Null zu schaffen hatten, um die Ecke brachte? Für sich schob er die Fragen nach dem »warum« eher in den Hintergrund, rechtfertigte sie bisweilen mit dem Argument, dass diese Leute anderen Leuten vielleicht was Schlimmes angetan hatten. Jedenfalls etwas, das unentschuldbar war. Ob Nicola auch so gekonnt verdrängte wie er? Seine Partnerin war da, wie ihm schien, abgebrühter. Viel war über sie nicht bekannt. Nur, dass sie bei der Armee gewesen war, einer Spezialeinheit gar, und dort irgendwann einen ziemlichen Mist hingelegt hatte. Sah man sie an, konnte man sich das nicht so recht vorstellen. Aber so war es nun mal – eine Lady wie der Traum aus einer Landdisko. Und dann, wenn es darauf ankam, ein eiskalter Todesengel.
Sébastiens Prepaid piepte. Er blickte kurz auf das Display. Anscheinend stand auch sein Auftraggeber mit der Nachtruhe auf Kriegsfuß. Ein unnötiger Anruf im Grunde – aus gutem Grund waren Jobcancelungen in ihrem Metier nicht vorgesehen. Sébastien stellte die Verbindung her.
»Ja. Was gibts?«
Die Stimme am anderen Ende hörte sich brüchig an, abgehackt. Klar – Übersee. Offensichtlich drückte einem da schwer der Schuh.
»Alles klar bei euch?«, meldete sich Bertrand Saudan. Der Name war Sébastien natürlich nicht bekannt – schon aus Sicherheitsgründen. Im konkreten Fall war es jedoch schon aus sachlichen Gründen angeraten, auch im unmittelbaren Vorfeld der Aktion den Kontakt aufrechtzuerhalten.
»Alles bestens«, entgegnete Sébastien in aufgeräumtem Tonfall. »Die beiden Italiener warten draußen mit dem Fluchtauto. Wir gehen rein und erledigen die Sache.«
»Gut.«
»Wir verschwinden von der Bildfläche wie besprochen. Alles läuft nach Plan.«
»Ich hab’ auch keine Zweifel.« Saudan, etwas kleinlaut. Dann: »Ihr müsst diesen Salvetti erwischen. Das ist unabdingbar. Der Rest ist nur das Konfetti dazu.«
»Kein Problem. Wir sind dran. Permanent. Der entwischt uns nicht. Muß ich nochmals erwähnen, dass du dir zwei Profis angeheuert hast?«
Sébastien fand, dass es an der Zeit war, dieses Gespräch zu beenden.
»Schon gut.« Saudan brachte den Anruf zum Abschluss. »Wollte mich nur nochmal erkundigen, dass alles nach Plan F läuft. – Der Rest der Zahlung erfolgt wie vereinbart. Nach Ausführung.«
»Ja. Bye-bye.«
Dann war es tot in der Leitung. Sébastien griff nach ein paar Chips in der Schale auf dem Beistelltisch neben dem Sofa, mit der anderen Hand nach seinem zweiten Mobil und widmete sich wieder den Angelegenheiten jener Welt, in der er nie dauerhaft hatte Fuß fassen können.
Träume, mauergraue Träume. Mit Schlafproblemen kämpfte auch Theo Schröder in seiner Einzelzelle im Pariser Stadtgefängnis La Santé. Das Dauerdomizil, dass sie ihm nach Abschluss der üblichen Durchlauf- und Eingewöhnungsphase zugewiesen hatten, war zwar aushaltbarer als die Provisorien während der ersten Haftwochen. Substanziell besser allerdings waren die sechs Quadratmeter mit Bettgestell, Waschbecken, Zellentoilette und dem kleinen Fensterverschlag zwei Meter über ihm nicht. Die Untersuchungshaft schlug ihm aufs Gemüt – mit jedem Tag mehr, und im Grunde verschärft durch den Umstand, dass sie ihm eine Art Einzelhaft-Ablauf verabreicht hatten. Sicher konnte er auf den Hof, sicher hatte er Kontakt mit Mitgefangenen. An seiner grundlegenden Isolation änderten diese Komponenten von Normalvollzug jedoch nichts.
Wichtiger war sein derzeitiges Anwalts-Problem. Zwar war zwischenzeitlich auch Theo Schröder im Bild darüber, dass der kommende Tag möglicherweise mitentscheidend sein würde im Hinblick auf die weiteren Geschicke des EXIT-Programms. Allerdings: Auch im besten Fall würden sie ihn nicht so einfach hier rauslassen. Weil eine Reihe von Dingen für ihn in der Schwebe waren, hatte er zwischenzeitlich einen Plan eingefädelt. Dessen erster Part ging so: Da Belavoine eine ziemliche Niete war, war ein Anwaltswechsel unabdingbar. Part zwei war dieser Marco Salvetti. Trotz seiner vergleichsweise kargen Informationskanäle war Theo Schröder durchaus zu Ohren gekommen, dass Salvetti gerade in Paris herumrecherchierte. Lange Rede kurzer Sinn: Schröder wollte Salvetti veranlassen, das Versprechen einzulösen, das dieser ihm im Gegenzug für das gelieferte Bauer-Material gegeben hatte. Konkret: Salvetti sollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit er, Theo Schröder, hier nicht im Knast verrottete.
Der Rest war: Untätigkeit, tagein, tagaus. Arbeiten wollten sie ihn nicht lassen, und so schmorte er großteils in seiner Zelle vor sich hin. Ein weiterer Abend war dahingegangen, an dem er stundenlang herumgrübelte über seine persönlichen Geschicke und die Situation im allgemeinen. Auf dem Rücken liegend, beobachtete er die kalkgeweißten, nur schemenhaft erkennbaren Umrisse der Decke über ihm sowie die ebenfalls kalkgeweißten Wände links, rechts, auf der Fensterseite und gegenüber, wo die Zellentür war.
Nacht, schwarze Nacht. Zunehmend glitten die Umgebung, seine Wachgedanken und seine Träume ineinander über. Es war die Stunde vor dem Morgengrauen – jene Stunde, wo die Sinne in eine Art Halbbewußtsein übergleiten, ehe der neue Tag anbricht. Er traf Joanne in einer Disko – gutgelaunt, aufgeräumt und in Tanzlaune. Die Disko war erst das Lucky Star, und Claudia besorgte hinter der Theke die Bar. Mit den Augen rollend, registrierte sie seine Flirtversuche. Dann war die Umgebung eine andere. Erst die Bar Boufier im Marais, dann unbestimmte Straßen. Joanne war auf der Flucht.
»Ich brauche dein Scheiß-Zeug nicht mehr«, herrschte sie ihn plötzlich an. »Hat mir eh noch nie geholfen.«
»Hey – wir finden eine Lösung«, entgegnete er mit brüchtiger Stimme. Einem Impuls folgend, rannte er plötzlich hinter ihr her.
»Dafür ist es eh zu spät.« Joanne. Sie rannte immer schneller. »Geh’ – Charlie. Es ist zu spät.«
Plötzlich waren sie da. Ein paar vermummte Männer. Und Claudia – plötzlich ebenfalls mittendrin. Claudia holte ihre Pistole und schoß auf sie. Die Männer schossen auf Joanne. Die plötzlich zusammenbrach und ihn, Theo, mit brechendem Blick ansah.
»Mach’, dass du davonkommst, Charlie. Hier kannst du nichts tun.«
Dann starb sie. Theos letzter Blick traf den von Claudia. Die in einem Hauseingang kauerte und ihn fragend ansah. Der letzte Blick. Er erschauderte – unterbrochen von Stößen, welche den Weg vom Traum- in den Wachzustand flankierten. Vermutlich die Putzkolonne in den Personalräumen – die Santé erwachte langsam zu ihrem gewohnten Leben. Und Theo, wieder halbwegs im Wachzustand, schaute auf das Dunkelgrau hinter dem Fenstergitter.
Und fragte sich, was dieser komische Halbtraum, aus dem er gerade erwacht war, zu bedeuten hatte.