Der EXIT-Komplex – Die Webseite zum Buch
Making-of
Foto: Günter Schuler
Wer könnte den Hintergrund eines Romans und seines Autors besser in Erfahrung bringen als eine Hauptfigur im Gespräch mit ihrem Autor? Die Fragen stellt so: Claudia Kopinski – der weibliche Konterpart zu ihrem Roman-Kompagnon Theo Schröder. Hauptfigur und Autor trafen sich auf drei Worte, einen Kaffee und eine Bionade.
Die Geschichte, in die du mich gesteckt hast, klingt schon etwas nach »Bonnie & Clyde«. Hast du da irgendwelche Referenzen im Kopf gehabt?
Eher nicht. Claudia – also: du, und Theo, die beiden Flüchtenden aus dem titelgebenden Programm – sind eher Getriebene. Leute, die damit beschäftigt sind, den Kopf oben zu behalten. In Roman sogar im fast wortwörtlichen Sinn. Dass zwischen euch eine Art Chemie entsteht, liegt an eurer besonderen Schicksalsgemeinschaft. Bonnie & Clyde – so auch der Titel des ersten Romanteils – passt also teilweise, aber eher atmosphärisch. Ohne zu viel zu verraten: Es gibt offene Enden.
Wie kamst du auf Theo und mich – mit unseren eher prekären Hintergründen?
Mehr oder weniger prekär leben mittlerweile viele Leute. Die aufgeräumte Mittelstandsidylle aus der Werbung trifft die Lebensrealität kaum noch. Selbst gut ausgebildete Menschen mit oberflächlich gesehen solider Einbindung haben sich mit wachsender Unsicherheit herumzuschlagen. Aber eigentlich hast du zwei Fragen gestellt – zum gesellschaftlichen Background der beiden Hauptfiguren und zur Figurenentwicklung für den Roman.
Ja. Machen wir mit zwei weiter. Wie bist du auf uns beide gekommen? Und wie hast du die Geschichte entwickelt?
Losgestartet ist sie mit deinem Schicksalsgenossen Theo Schröder. Der ist ein klassisch aus seiner Jobwelt Herausgeworfener. Natürlich nicht nur mit Sitten, sondern auch einigen Unsitten. Theos Einstieg in die Welt der Spannungsliteratur begann in Form einer Kurzgeschichte. Beim Niederschreiben war schnell der Punkt erreicht, an dem die Story das ursprüngliche Format sprengte. So wuchs sich die Geschichte um Theo und Claudia – später dann auch weitere Involvierte wie etwa dem Investigativjournalisten Marco Salvetti – zu einem Roman aus. Einem Thriller, in dem dieses Programm mit dem Namen EXIT den handlungsgebenden Rahmen bildet.
Zu dir beziehungsweise deiner Rolle im Roman: Während Theo impulsiv ist und seine Attitüde des Lonesome Cowboy mal besser, mal schlechter kultiviert, erwächst ihm mit Claudia Kopinski – also dir – eine Art Gefährtin auf Augenhöhe. Claudia hat ähnliche Deklassierungserfahrungen durchgemacht. Allerdings ist sie pragmatischer, kompromissbereiter als Theo. Und schafft es gerade mit dieser Herangehensweise, auch brisante Situationen zu meistern. Im Duo ergänzen sich die beiden natürlich perfekt.
Du hast gesagt, der Plot hat sich aus einer Kurzgeschichte heraus entwickelt. Demzufolge hast du uns – netter Zug übrigens – nicht »durchgeplant«?
Das hat sich in der Tat Zug um Zug entwickelt. Generell favorisiere ich beim Schreiben eher organische Handlungsstrang-Entwicklungen. Das hat den Vorteil, dass man situativ reagieren kann – nicht schlecht vor allem dann, wenn die Figuren anfangen, ihr Eigenleben zu entwickeln. Was ihr natürlich tut. Natürlich gilt es auch hier, die Verwicklungen, wie sie bei einem Thriller typisch sind, aufmerksam im Blick zu behalten – also mit den genretypischen Bällen zu jonglieren.
Was mir beim Lesen auffällt – beziehungsweise beim Déja-vu-Blick auf meine von dir niedergeschriebene Geschichte: Die eigentliche Thrillerhandlung kommt eher gemächlich in die Hufe. Das erste Viertel liest sich eher wie ein Road Movie – Bonnie & Clyde eben mit ein bißchen Pulp Fiction und Trucker-Romantik. Persönlich habe ich dieses erste Viertel ja als ziemlich turbulent in Erinnerung …
Ja, durchaus – obwohl ihr euch in den Part des wirtschaftskriminellen Komplotts dann eher allmählich und teils eher unfreiwillig vorgearbeitet habt. Der Vorteil dieses Vorgehens entlang der Geschichte: Die unterschiedlichen Tempi und Stimmungen ermöglichen einen Einstieg in den Handlungsrahmen, der einfach vielschichtiger ist – und so letzten Endes organischer.
Auffällig in deiner Schilderung sind die teils weiträumigen Zeitintervalle. Erst das Prelude unserer Flucht, dann passiert erstmal wenig, dann geht’s in die klassischen Turbulenzen, die man halt so von einem Thriller erwartet …
Der Konflikt entwickelt sich eben und braucht für die Zuspitzung seine Zeit – ähnlich wie in einer gut durchkomponierten Serie. Die übergreifende Frage dabei war: Wie stellt man so ein komplexes System wie dieses EXIT-Programm dar, ohne dass daraus eine 08/15-Verschwörungsgeschichte wird? Die Lösung hier war die, dieses Zusammenwirken von Staats- und Wirtschaftskriminellen aus einem Blickwinkel »von unten« darzustellen – aus der Sichtwarte von Protagonisten, die die Folgen des Ganzen existenziell auszubaden haben.
Weite Teile deines Romans spielen in Paris. NIcht, dass ich mich darüber beschweren wollte. Aber: War das Absicht?
Sagen wir so: Es hat sich ergeben. Wobei mein Faible für Paris dem Ganzen sicher nicht geschadet hat. Anders gesagt: Am besten sind fiktive Beschreibungen stets da, wo sie auf eigener Anschauung aufbauen können.
Wie stand es mit Recherche? Sicher lassen sich nicht alle Handlungselemente mit reiner Erfahrung abdecken.
Natürlich sind eine Reihe Rahmenbedingungen nachrecherchiert. Paradebeispiel: die Santé – die Pariser Haftanstalt im Süden der Stadt. Ähnlich bin ich auch bei dem Zürcher Part vorgegangen und bei einigen anderen. Grund: Der Handlungsrahmen ist zwar dystopisch, also eine literarische Erfindung oder Allegorie. Das Setting jedoch sollte schon so realistisch sein wie irgendwie möglich.
Ein auffälliger Aspekt deines Romans ist die dystopische Grundkonstellation. Ein Horrorszenario, in dem der Staat ein Programm auf den Weg bringt, in dessen Zug ganze Bevölkerungsgruppen eingefroren werden. Ist das nicht stark übertrieben, beziehungsweise offen für verschwörungstheoretische Auslegungen?
Ja und Nein. Du kannst natürlich aus allem obskure Verschwörungen herauslesen. Wer den EXIT-Komplex als Beleg dafür nehmen will, dass finstere Gestalten die Geschicke der Welt lenken, wird das tun. Interessanter ist für mich der Aspekt der Dystopie. Dieses EXIT-Programm ist ja erkennbar eine Art Parabel – eine Parabel über Situationen des Ausgeliefert-Seins, des Seine-Geschicke-nicht-mehr-selbst-in-der-Hand-Habens. Diese Gefühle wiederum werden von gesellschaftlichen Entwicklungen und letzten Endes auch gesellschaftlichen Akteuren ausgelöst.
Klingt recht abstrakt. Was hat das mit den konkreten Leuten zu tun?
An dem Punkt setzt das Szenario des Romans ein: dem Gefühl, dass die eigene Existenz auf eine recht krasse Art nicht mehr planbar ist, dass sie den Einzelnen entgleitet. Die besten Parallelen liefert die derzeitige Politik: Die unter Trump fortschreitende Eskalationsspirale in den USA etwa hätte noch vor fünf Jahren kaum jemand für möglich gehalten. Fast schon selbst eine Dystopie – nur, dass sie real passiert.
Im EXIT-Komplex ist die Dystopie allerdings stark gebrochen. Durch die Thriller-Handlung, und eben auch burleske Elemente.
Erst mal war mir wichtig, dass die Geschichte als Thriller funktioniert. Die burleske Note ergibt sich vielleicht durch eine gewisse Lakonie. Kulturell bin ich ein typisches Kind der Neunziger, und durch die Noir-, Pulp-, Pop- und Serienkultur der letzten dreißig Jahre sicher stark geprägt. Ein Schlüsselwerk in meinen Augen ist da etwa Das Leben des Vernon Subutex von Virginie Despentes. Eine Romantrilogie, die die subkulturellen, sozusagen lebensweltlichen Aspekte von Figuren, die man gemeinhin als randständig ansieht, ins Rampenlicht literarischer Aufmerksamkeit gerückt hat.
Welche Autoren schätzt du sonst noch? Gibt es Vorbilder?
Meine Präferenzen sind recht bunt gemischt. Schätzen gelernt habe ich in den letzten Jahren französische Autor(inn)en – darunter etwa Karine Tuil, eine Paradeautorin der gesellschaftsbeobachtenden Exofictionalismus-Richtung, oder auch Jêrome Leroy, einen Autor, der den Aufstieg der französischen Rechten in den Fokus rückt. Deutsche Autoren: Sven Regener und Juli Zeh etwa finde ich gut, weil sie gesellschaftliche Zeitaufnahmen mit konkreten, anschaulichen Geschichten kombinieren. Was Thriller anbelangt, stehen Don Winslow und John Grisham regelmäßig auf meiner Leseliste. Wobei ich einräume, dass ich hauptsächlich auf Sachbücher und historische Titel kapriziert bin – also: insofern nicht der typische Belletristik-Leser.
Wie sieht es mit Serien aus?
Wie bei vielen Leuten ein bißchen eine Manie. Wobei ich bemerkt habe, dass ich mir in Zeiten, wo ich selber schreibe, Serien auch unter gestalterischen Aspekten ansehe. Also: gezielt vor dem Hintergrund: Wie kriegt der oder die das hin?
Gibt es spezielle Lieblingsserien?
Stark erzählt und anschauungskräftig finde ich die Formate aus dem Yellowstone-Universum von Taylor Sheridan. Ebenso die beiden Narcos-Reihen – ästhetisch gesehen deutlich abseits angesiedelt vom US-amerikanischen Serien-Mainstream, und in der Art und Weise, die Geschichte der lateinamerikanischen Drogenkartelle zu erzählen, fast in einen dokumentarischen Aufklärungsmodus verfallend. Natürlich mag ich auch leichtere Formate – beispielsweise die Miniserie Big Little Lies oder The White Lotus, ein vergleichsweise neue Produktion.
Kriegt Der EXIT-Komplex eine Fortsetzung? Gibt es eventuell ein Wiedersehen mit mir und Theo?
Mal schauen. Gedanken dazu sind in der Pipeline. Nicht ausgeschlossen, dass sich das Ganze am Ende sogar zu einer Trilogie auswächst. Der Abspann im EXIT-Komplex ist zukunftsoffen genug, um das nicht auszuschließen.
Du hast deinen Roman im Selfpublisher-Modus veröffentlicht. War das Absicht oder eher den Umständen geschuldet?
Letzteres. Um die Realitäten nicht beiseite zu schieben: Das bestehende Gerüst unterschiedlicher Verlage halte ich immer noch für einen recht brauchbaren Qualitäts-Garanten. Allerdings muß man sehen, dass ein starkes Anziehen in Richtung Wirtschaftlichkeit Fuß gefasst hat. Früher war es so: Erfolgreiche Titel tragen mittelerfolgreiche und weniger erfolgreiche mit. Heute ist mehr oder weniger alles auf Bestseller hin ausgerichtet. Im Sinn einer wünschbaren Vielfalt – inklusive einer angemessenen Versorgung der Nischen – halte ich das für eine nicht so gute Entwicklung. Aber: wer weiß? Vielleicht sorgt die angelaufene Entwicklung im Bereich Self Publishing sowie anderer neuer Formate da für frischen Wind.
Gibt es über den »EXIT-Komplex« sowie mögliche Fortsetzungen hinaus weitere literarische Pläne? Irgendwas, was bereits in der Schublade liegt?
Ideen sowie Versatzstücke – inner- wie außerhalb des EXIT-Komplexes – liegen natürlich auch bei mir in der Schublade – beispielsweise ein paar Kurzgeschichten sowie Sachtexte zu unterschiedlichen Themen. Eine vage, wenn auch reizende Idee etwa ist ein Roman über den umstrittenen US-amerikanischen Freischar-Führer und Senator James Henry »Jim« Lane, also eine Art Bürgerkriegsdrama der Sorte, wie es Ang Lee mit seinem Film Ride With the Devil umgesetzt hat. Aber das alles ist Zukunftsmusik. Wie im Leben gilt auch beim Romanschreiben: man sollte sich die Zielvorgaben nicht zu eng umschnallen.
Letzte Frage: Was hälst du von den Swifties? Frage auch deswegen, weil ich – nachdem du mich in die Freiheit entlassen hast – letztes Jahr auf einem Konzert von Taylor Swift war.
Großartig. Ich meine – musikalisch nicht so ganz mein Fall. Aber sonst? Das humane, hedonistische Gegenbild, dass diese Bewegung ein Stück weit zelebriert, ist doch exakt das, was autoritären Weltenführern wie Trump oder Putin die Sorgenfalten auf die Stirn treibt. Zumal Taylor Swift im zurückliegenden US-Wahlkampf durchaus Rückgrat unter Beweis gestellt hat. Von daher: weiter so.